ZUM FILM ZEIT (2016)
Zweierlei Zeit
Zwölf zwischenzeitliche Annäherungen
Michael Bahn, Filmemacher und Autor
„Zwischenzeit“
Michael Bahn, Filmemacher und Autor
„Zwischenzeit“
Was ist schön in Alles ist schön?
In Alles ist Schön ist nichts schön außer Alles.
Alles, das ist Land. Der eisige Mutterschoß, der alles umschließt. Die Nebelwildnis. Ein lateinisches Wort für Wildnis ist „arena“. Nun ist der Wald im Ausseerland ja eher „rus“ (bewirtschaftetes Land) als „arena“, aber im Film spielt der Wirtschaftswald die Wildnis. Franz geht nicht zum Holzfällen in die Schneewaldwüste, sondern um in ihr zu verschwinden.
Die eisige Mutter Land ist, bis auf die allerletzte Einstellung, einziger Hauptakteur im Film. In ihren Eingeweiden führen Mikrobenmenschlein die letzten Stunden dieser Welt des immerwährend pulsierenden, in sich zurückkehrenden Wandels auf. Ihr hat John Berger mit seiner Novelle „Sauerde“ ein Denkmal gesetzt, eine Hymne auf die blinde kollektive Kompetenz bäuerlichen Überlebens. In der vorindustriell-bäuerlichen Welt wandelt sich alles, unvorhersehbar, unerbittlich und ununterbrochen. Revolution war, bis 1789, in sich selbst verschlungener Wandel. Oh Fortuna, velut luna, statu variabilis! Und Alles ist immer. Schön.
Die Menschen in Alles ist Schön bilden ein irrlichterndes Kraftfeld, irisierendes Protoplasma. Die Akteure, oder nennen wir sie Aktanten, sind virtuell, der Tisch, die Tante, die Teekanne, Tröglbauer, die Tür. Moni, das Messer, Fußspuren, der Franz. Wenn die Menschen in Alles ist Schön tatsächliche Protagonisten wären, hieße der Film nicht Alles ist Schön. Er könnte dann etwa „Der Rückkehrer“ heißen, ein Primer des „Revenant“ von Alejandro Iñárritu. Denn der Rückkehrer Franz ist die Anomalie, die die ländliche Homöostase zum Gefrieren und zu Bruch bringt. Der Betrachter fragt sich: Warum? Warum kehrt er, vor allem so bald, wieder zurück nach dem gewaltsamen Ende des Tröglbauer, dessen Ursache er zu sein auf sich genommen hat – oder hat er doch nicht? Hat ihn Justitia aus ihren Fängen entlassen, weil sie ihm die Tat nicht nachweisen konnte und es müde war, nach einen anderen Mörder oder einer anderen Mörderin zu fahnden? Hat sie ihn begnadigt, weil er die sexuelle Attacke des Tröglbauer an Moni verhindern wollte in einem Akt altruistischer Notwehr?
Wäre er nicht zurückgekommen, wäre alles Schön geblieben. Tröglbauer wurde ermordet, und dafür musste ein anderer aus dem Spiel genommen werden. So geht die Gleichung auf: Das alte Funktionsprinzip der Blutrache, in der es eben genau nicht um Rache ging. Denn wer wen ermordet hat, spielte keine Rolle. Es musste nur ein Gleichwertiger aus dem Spiel genommen werden. Damit konnte das System in die Balance zurückspringen.
Doch gleich zu Beginn des Films kehrt Franz zurück und leitet das Ende ein. Das Schicksal verschläft diesen Augenblick, öffnet ein Notventil und schickt ihn in den Wald. Zu spät. Sein zweites Verschwinden kann den entropischen Zerfall nicht mehr aufhalten. Assymmetrie pflanzt sich fort. Das Land, das eisige Biest, spuckt Moni aus. Sie materialisiert sich auf einem Punkt, markiert durch Beton. Der Werkstoff steht für die Stadt. Das Wort Stadt kommt von der Wurzel stat, das ist die „Stelle“, im Unterschied zu „rus“, dem „Feld“. Punkt und Fläche, Signaturen für Stadt und Land. Dort steht sie nun, die Moni, abgeworfen, ausgefällt als Rest der Gleichung, wie Schrödingers Katze nach Öffnung der Kiste. Aber Moni lebt, sie trägt ihren Pelz in trotziger Laszivität zur Schau. Aber um sie herum herrscht Leere. Aber nein! Wir sind da, wir, die wir durch die Kameralinse gucken. Wir, die Stadt als Civitas, City, Bürgerschaft. Eine verdichtete Gesellschaft bestehend aus Individuen, geprägt vom Bestreben, in dieser Dichte zu funktionieren, indem wir uns auf tausendfache Weise aufeinander beziehen, miteinander verbinden. Es sind die Verbindungen, die uns auf Distanz halten, uns davor bewahren, ineinander zu kollabieren wie tote Sonnen. Monikas Individuation ist der Rest, der übrigbleibt, wenn die Gleichung nicht mehr aufgeht. Ein Archetyp taucht dahinter auf. Der Fötus am Ende von Stanley Kubrick’s „2001 – Odyssee im Weltraum“.
Was wird aus Moni werden? Individuum geworden, ist sie die reine Möglichkeit. Sie ist Gegenstand der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie hat einen Voucher für den Pursuit of Happiness. Landet sie in der Gosse? Wird sie Astronautin, Fußpflegerin, Präsidentengattin? Wir wissen es nicht. Können es nicht wissen. Alles ist Möglich. Die Hoffnung auf ein Sequel bleibt wohl unerfüllt. Wir wissen nur, dass es kein Zurück geben wird, denn die Außenhaut der Mutterzyste schließt sich fugenlos und die Quecksilberwogen unserer Raumzeit schlagen satt über ihr zusammen, sich langsam ausglättend, selbst das Vergessen auslöschend.
Moni, wer einmal ausgespien wurde in die Individuation, der kann nie mehr zurück. Du zeigst dich verletzlich, irgendwie fehl am Platz. Aber du kannst es schaffen. Wir wünschen dir viel Glück.
Robert Lukesch, Autor und Reisender
„Nicht auf der Linie“
Tina Glaser, Autorin
Schätzungsweise Wiener Avantgarde
Der Ursprung von Rudolf Müllers Filmen liegt in der experimentellen Wiener Film- und Kunstszene der 1970er und 80er. Seine Ablehnung des über den künstlerischen Freundeskreis und die überlebensnotwendige, alltägliche Kunstpraxis hinausreichenden Institutionellen macht ihn allerdings nicht nur zum Verweigerungskünstler, sondern auch zum Geheimtipp. Ein Geheimtipp, den zu entdecken es nicht nur für Liebhaber und Kennerinnen der Wiener experimentellen Avantgarde höchste Zeit ist!
In dem Buch Approximate II, erschienen im Academic Publishers Verlag, sind nun Text- und Bildmaterial aus und zu Rudolf Müllers filmischem Kosmos versammelt. Der Archivkarton und dessen Zerreißen als Verweis auf seine Arbeitsweise zieht sich bildlich durch den Band.
Müllers Selbstverständnis ist das eines „schweren“ Autodidakten. Ungefähr radikal ist sein filmischer Anspruch – das Zerstören oder sagen wir zumindest Hinterfragen unserer Sehgewohnheiten.
In den Worten Bruni Sands über seine Arbeit –
im Anschreien gegen die Fesseln
unmenschlicher
geisttötender
seelenloser
Konvention…
– wird das annähernd Historische gegenwärtig wieder erschreckend zeitgemäß.
Hannahlisa Kunyik, Künstlerin, Autorin, Kuratorin
Rudolf Müller setzt sich künstlerisch mit der Qualität von Zeit auseinander. In Approximate II geben das wunderbare und teilweise irritierende Bildmaterial seiner Filme – eindrucksvoll durch die Technik sich überlagernder Zeitschichten – und die poetisch reflektierenden Texte eine differenzierte Sicht auf die Themen Vergänglichkeit, Verletzlichkeit, Lust und Schmerz.
Univ. -Prof. Ralph Illini
mit holger czukays wiedergeburt bereits zu seinen lebzeiten gesprochen, gilt auch für rudolf müllers filme: „wir wollten nicht lernen, wir wollten verlernen“
Jack Hauser, ex-Filmemacher