Texte

Ein eigenartiges Manifest

Wir, Ralph und ich, sitzen im Caféhaus und reden.
Wie war das, wie fühlt sich das an, unsere Jugend, unsere Zeit damals.
Wir brauchen keine Anweisungen mehr zu befolgen.
Die Welt der Brotberufe, der Berufungen, der Alltäglichkeiten haben wir hinter uns gelassen.
Wir sind frei, wir sind aber auch alt geworden, unsere Eltern sind tot.
Wir sind nur scheinbar frei, wir sind scheinbar alt geworden, unsere Eltern sind definitiv tot.
Alles um uns herum hat sich verändert.
Oder ist alles vollkommen gleichgeblieben?
Es kommt auf die Perspektive an.
Wir graben in unseren Erinnerungen.
Wir gehen zurück, in die tiefen Zeittunnel, die schwarzen Zeitlöcher, in die Welt der Wunden und der Kriege gegen alles und dem Nichts.
Wir graben so tief, dass es weh tut.
Wir wollen nochmals die staubigen Zeitmäntel anlegen.
Wie mühevoll und schwer das Atmen fällt.
Die Blickfallen der Vergangenheit, überall sind sie ausgelegt.
Ein Minenfeld der Gefühle, vor uns der Schmerz und auch die Farben des Regenbogens.

Wir sitzen im Caféhaus und planen das Unfassbare.
Ein Schnittplan der Hoffnung entsteht.
Ein Bild ergibt das andere.
Ralph erzählt, er umtanzt die Wortklippen und fällt in tiefe Gedankengräben.
Ich verschwinde im Bild und reflektiere das stumme Leuchten der Zeit mit Wortkaskaden.
Plötzlich verschwinden wir beide und tauchen ein ins Universum unserer eigenen Zeit.
Die Fragmente des Lebens, wir sind gleichzeitig die Könige und Bettler der Nullzeit.
Wir erzählen, dringen in Räume voller Glanz und Abscheu, langsam, unverdrossen, still und laut zugleich, verändern uns, sind unseren Vätern ähnlich und doch auch fern, Seelen, die der Wind bewegt.

Wir öffnen Türen hinter den bekannten Türen und verlieren die Orientierung, Schnitt und Schwarz, Film und Sound, Frauen lachen uns aus, verlassen unsere ausgetretenen Gedankenwege, lassen uns verstört zurück. Haben wir wieder die falschen Geschichten erzählt? Waren die Mühen umsonst, haben wir wieder nur die altbekannten Wege betreten, waren wir zu feig, die falsche Abzweigung an der Kreuzung des Lebens zu nehmen.

Die neuen Generationen warten schon, sie sehen uns zu, wie wir uns verlaufen und verwirrt noch einmal versuchen, die wahren Geschichten zu erzählen, in unseren staubigen, von den Mottenkugeln stinkenden Zeitmänteln.

Es ist High Noon, wir stehen nebeneinander, wir wissen nicht, wer und was uns noch begegnen wird. Uns kann nichts mehr erschüttern.

Wir, Ralph und ich, sitzen im Caféhaus und reden …

 

zur Filmseite FRAGMENTE von Vätern und Söhnen

Ich und die Welt
Er lebte hier, lange her, aber doch
Tage voller Leere, zum Ersticken
Der Blick nach Draußen
Im Stiegenhaus riecht es noch
nach Desinfektionsmittel
Ein Arzt, Vater, jetzt sitzt
sein Sohn vor den Patienten
Ich und das graue Stiegenhaus
Er erlebte sich hier
Noch nicht so lange her
Man oder er
können sich noch daran erinnern
Erreicht mich der Atem der alten Eltern?

Ich und das Haus in der Straße
die von Bäumen gesäumt
Wie immer, im Schlafzimmer
die Strahlen der Sonne
Sonst ist es dunkel und kühl
Er zeigt in den Hof, wo die Tauben nisten
und das Gurren, das die Sommertage begleitete
Weltveränderungen auf den Steinstiegen,
sonst kein Anzeichen von Leben
noch immer nehme ich zwei Stiegen auf einmal
Noch immer die Augenblicke draußen,
das Verändern der Blicke nach Drinnen
freie Himmelflächen, Mauern,
Schattentäler im Winter

Er und Kassecker, was immer ein Bergbild bedeuten soll,
ein Berg, ein riesiger Stein,
Fels ohne Brandung, ohne Meer und Wind
Baumreihen verbergen die gefalteten Hände,
welch ein WIR in dieser Gemäldewand
diesem Volksbild Österreichs
nach dem Kriegsbeben
ich bin offen für jenes Bild
das dieses Gebirge verstellt
freier Blick, Meer, Krieg
und was dann?

Totaler Aufbau, Wandverbau,
Holzverbau, Abschottung,
Abwerfung, Abwertung

Ich bin hier zuhause
Gewesen
Verwesen
Blumenmusterbluse
Und Steireranzug

Sonntag/ICH und ER
Wir zwei träumen vom Danach
Che an der Wand als Ikone der Nullzeit
des kommenden Anfangs
Im Untergrund einer Zeit,
die sich fortgeschlichen hat
Wärme und Kälte
ununterscheidbare Gefühle
Woimmer ich lebte
Hier & und SIE lebten auch hier
Hinter den Vorhängen der Bescheidenheit,
vollkommen atonaler Hilflosigkeit
ER stiehlt S 500,- aus der Geldbörse des Vaters und kauft
sich die neue von „King Crimson“
um sich am Leben zu erhalten
Kein Gott, ein Zimmer, zwei Zimmer, Küche
In seinem Zimmer ein eingebauter Wäscheschrank
Die Eltern im Wohnzimmer
Eng und unberührbar, einsam
Langsamer innerer Durst, unstillbares ICH
Ich und er und Sie
Das andere Draußen

Ich und diese Welt
Er lebte sich hierher und
in eine Irgendwie-Vollkommenheit
Hierorts ohne Anhaltspunkte
Vorerst, vorgegeben, vor allem,
vor der neuen Zeit
geprägt
unverstanden
komisch …

Ich lebte mich von hier fort
Er verließ es und ließ etwas zurück
Verstanden, Zeit, Dinge, Welt, ein Stück von ihr,
wie ein Hauch
weht Lebenszeit durch Mauern
durch Raum und Blick und Geschmack
Auf und ab, auf und ab,
ein immernochwährender Ton

Nachholzeit, JETZT

Oh Welt, oh du verschrobene, du
Kann man sich wirklich bewusst die
eigene Wirklichkeit benennen
Zeitdieb, der ich war, nein bin
mit EUCH, verträumter, zerlumpter,
im Bettleranzug, hab mich nie wohlgefühlt
er schlägt die Trommel zu einer langsam
begleitenden Stille
HEIMWÄRTS

Nun ist’s nur mehr ein Schatten
den er wie einen Mantel mit sich trägt
wenn man jene Zeit hervorholt
die man abgeschlossen wähnte
Wenn sie, die Zeit
jetzt nochmals hervorkriecht
um sich mit dem Nullpunkt
zu vermählen
Da sie ja unumkehrbar „währte“
und in uns ihrer Interpretation harrte
Welch letzter Seufzer entgleitet ihrem
stinkenden Schlund
Fühlt sich an wie ein Zeitmantel
im Duft von Mottenkugeln
als Waffe

Lach jetzt Fremder!
Ich lache, Fremder
Er lacht mich aus
Nein, es ist nur die Erkenntnis!

Versteh mich, versteh mich jetzt, endlich!

Das Verstehen fehlte mir so , bitte enttäusche mich nicht!

Ich gehe jetzt für immer, Freund
Du Blickfreund meiner Ewigkeit

Ich lebe in meiner Nachholzeit
Er weiß was ich meine
Fort von den Augenblicken
die ihn verließen
Anders als Verlassenheit
Schräg hinten

Ich und diese Welt
Er lebte auch hier,
lange her!
Interstellar Overdrive
Cormack McCarthy sagt: „..was du mit der Erinnerung änderst,
besitzt schon eine Wirklichkeit, ob bewusst oder nicht“

Der Vater
in seinem Wehrmachtsmantel
in Constanza, in Schönbrunn, Den Helder, Paris
den Schlössern an der Loire
Im Champagnerfußbad
Im Funkwagen, schokoladeessend
Keine Zigaretten, Angst
trotzdem Lungenkrank
Auch als Segen, vom Himmel gefallen
Kein Krieg mehr, trotzdem gefallen
in die weißen Laken der Verwegenheit
Im Sonnenlicht, lufthungrig,
Lungen saugend
Rettung?

Point Zero
Auch, eben, Parallel-Geschichten
Womöglich
Was weiß ich?
Vor dem Regen kommt der Wind
Immer schon!

Erfüllung der Ortlosigkeit durch Klänge
Klangfüllung des Ortes ohne eigene Töne
Von den Eltern abgekoppelt
durch den Musikrausch
tonlose Liebe, Entsetzen
Rock & Roll, geschafft, was?

Ich durchwate den wattierten Ort der absoluten Tonlosigkeit
Faltet sich der Raum im Jetzt?

Auf dem Mauerbild (Tapete/Malerei/Schichten)
ein Bild der eigenen Identität setzen
im gebirgslosen Seelenland abgeschottet
Die eigene Identität spüren können

Endlich bin Ich
Er ist jetzt (erst)
Geworden
Fest
Keine Töne
Im Mutterleib
Kein Singen
Kein Toben
Keine Übertragung

Endlich wurde Er Ich und ich lebe und fühle und singe
spüre diese Stimmschwingungen
was wäre Ihm abgegangen
Er hätte es fühlen können

Das Felsbild bearbeiten
Das innere Felsbild
Zerstören wir es als Fest
Laut und atonal
Fest und ECHT!

Point Zero!

Ich und die Welt
Er lebte hier
Vor dem Regen
kommt der Wind …

 

Rudolf Müller 2012

Um der Freiheit des Augen-Blicks zu begegnen bedarf es der Mühe. Der erste Schritt ist der Aufbruch aus dem Stillstand. Der Augen-Blick selbst ist ein Fremder, er taucht auf in flimmernder Luft, er lächelt beim Vorbeigehen und verschwindet am Horizont der Erinnerung – das Bild des Augen-Blicks – bleibt, berührt uns. Das Lächeln der „Berührten“, die Verwirrung, die Legende, die Bild-Welten, das Seufzen, die Melancholie, das Erwachen.

Welch Verrat, oder Täuschung steckt doch auch gerade im Augen-Blick wenn ich fotografiert werde.

Das tiefe Gefühl des konzentrierten Blicks, die stete Bemühung, selbst Aktion zeigen zu müssen, die Bemühung eines Lächelns, das Verwirrt-Sein, das Weg/hin-schauen, die Verletzung der Scham.

Der Augen-Blick ist ein Pfeil, der gerichtet ist, er trifft dich auf jeden Fall. Der Augen-Blick ist der Richter über ein bestimmtes Gefühl, die Überraschung, die Übertreibung, das seltsame Gewissen einer Begegnung.

Vier imaginäre Größen überschneiden sich, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Fotograf mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.

Der Augen-Blick als Erscheinung, gebannt auf Fotopapier: ein leerer – und immer leerbleibender – Himmel mit einer Erleuchtung, Vernichtung und Er-Lösung zugleich.

Durch ein kurzes Drücken auf den Aus-Löser der Kamera wird das Bild des Augen-Blicks vom Lauf der Zeit befreit – STILL – Herauslösung aus Zeit. So ist es gewesen, genau so und nicht anders. Man bemüht sich ein bestimmtes Bild „festzuhalten“, „einzufangen“, man bemüht sich eben Augen-Blicke aus der Zeit zu lösen um nachher sagen zu können „So muss es gewesen sein, genau so, genau so und nicht anders“.

Die Freiheit des Augen-Blicks – zusammengefasst in der „Bande“, dieser faszinierenden Bildfolge, dieser Verbindung der Freunde, der Nicht-Mehr-Freunde, der Seltsamen und Verwirrten, der Verirrten und Wiedergefundenen, der Träumer und Landwirte, der Architekten und Liebesakrobaten, der Feinfühligen und Abgestorbenen, der Crasher und Trasher, der Hilflosen, der Gärtner und Diener, der Ärzte, Chemiker, Banker und Künstler, der Betrogenen und Säufer, Schaumschläger und Tennisspieler, PC-vervirten und der Engel, der Kinder, der Traumtänzer, der Liebenden und der vielen selbstlos gebliebenen Egoisten – führt alle wieder einmal zusammen, für einen Augen-Blick, vielleicht.

Und in einem bestimmten Augen-Blick betritt wie immer der geheime Gast jedes Festes – oder ist das nur die Blanke Nostalgie? – die Bühne und schreit durch den Lärm des Gläserklirrens „Ja! Das sind WIR!“

Doch wie in einem geheimen Drehbuch festgeschrieben, bläst der Wind der Zeit die Bilder wieder von der Wand, und die seltsame Bande löst sich trunken auf. Irgendjemand sammelt die Bilder verstohlen ein und verschwindet mit ihnen in der Nacht – für die Zukunft – für die dort lauernde Erinnerung.

R.M. (2000 – als Beitrag für den Fotoband „Die Bande – Vierzig und Ich“ von Bruni Sand)